Diese Woche treffen sich nach 22 Jahren wieder Vater und Sohn, Vater Jaakov1יַעֲקֹב mit Sohn Josef.
Die Geschichte, wie zehn unserer angesehenen zwölf Schwotim2שְׁבָטִים
Stämme ihren eigenen Bruder verkaufen, zieht sich jetzt in den dritten Wochenabschnitt. Das Problem, welches ich mit dieser Geschichte habe, ist: Wir beten oft, ER soll unser Gebet erhören, da wir Nachkommen der edlen Schwotim sind.
Zum Beispiel am achten Tag Sukkes [סֻכּוֹת] beten wir für Regen im S'chuss [זְכוּת = Verdienst] der zwölf Schwotim: זְכוֹר שְׁנֵים עָשָׂר שְׁבָטִים – (LINK)
Sollte man solche Individuen, welche ihren eigenen Bruder als Sklaven verkaufen, nicht in einer der tiefsten Stufen der Menschheit einordnen?
Man kann einfach sagen, wir müssen nicht alles verstehen. Dieses Statement stimmt auch, wir werden nie alles verstehen. Und doch dürfen wir so viel wie möglich unserem Verstand näherbringen.
Auch am Schluss unserer Ausführungen, wird der Verkauf ein Fehler der Schwotim bleiben. Laut unseren Weisen wurden die Seelen der zehn Brüder später bestraft.
Die Seelen der zehn Schwotim kommen wieder auf die Welt in der Zeit der Zerstörung des zweiten Tempels, über tausend Jahre später. Die Weisen dieser Zeit werden Tano'im [תַּנָּאִים] genannt. Als die Römer zehn der größten Tano'im Umbringen, so war dies die Strafe für Josef's Verkaufen.
Aber es wird ein Überlegungsfehler sein – hoffentlich, und nicht eine Tat eines Mafiosi.
Avraham hatte zwei Kinder, Jizchak & Jischma'el. Jischma'el wurde nicht ein Teil des auserwählten Volkes, seine Nachkommen stehen allen anderen Nichtjuden gleich. Auch von den zwei Kindern von Jizchak, Jakov & Esaw, gehören nur die Nachkommen von Jakov zum auserwählten Volk.
Als nun die zehn Schwotim sahen, dass ihr Vater Jakov ihren Bruder Josef begünstigte,5Wajeschew
(B’reschit, Genesis,
1.Buch Mose 37,3) bekamen sie Angst, dass das jüdische Volk nur von ihm kommen werde und ihre Nachkommen Nichtjuden sein werden. Mit der Beseitigung von Josef erhofften sie also, vom Judentum nicht abgestoßen zu werden. Und trotzdem, solange Josefs Privilegien die Initiative von Vater Jakov waren, unternahmen die Schwotim nichts. Als dann aber auch Josef aktiv wurde und gegen die Brüder vorging, ihre Taten falsch verstand und sie beim Vater denunzierte,6B’reschit, Genesis,
1.Buch Mose 41,41-46 da handelten die Schwotim ihren Bruder als Mejssis7מֵסִית, [als ein Jid, welcher den anderen Jid vom Judentum abbringen möchte]. Die Brüder hatten also geglaubt, sie kämpften um ihr Leben. Nicht um ihr körperliches Leben, sondern um ihr geistiges Leben.
Probieren wir auch das nächste Rätsel zu entschärfen. Josef wird dem Pharao fast gleichgestellt, teilt aber seinem Vater nicht mit, dass er noch lebt. Es vergehen die sieben fetten Jahre und nach dem ersten Hungerjahr sieht Josef die zehn Brüder, die ihn verkauft haben. Er verrät ihnen nicht, dass er Josef ist, behauptet, sie seien Spione und verlangt, dass sie Benjamin mitbringen. Der Vater Jakov hat Angst, auch Benjamin zu verlieren, weigert sich, ihn nach Ägypten zu schicken und wartet ein weiteres Jahr. Auch in diesem Jahr teilt Josef seinem Vater nicht mit, dass er lebt. Nicht nur beendet Josef nicht das Leid seines Vaters, sondern er verursacht ihm zusätzlichen Schmerz, indem er verlangt, Benjamin zu treffen.
Falls sich Josef an seinen Brüdern rächen will, so ist dies zwar verboten,8WaJikra (Leviticus, 3.Buch Mose 19, 18) aber menschlich. Aber weshalb fügt er seinem Vater noch zusätzliches Leid hinzu?
Der Schlüssel der Erklärung liegt zwei Wochen zurück, bei den zwei Träumen von Josef. Zuerst hatte Josef geträumt, dass die Getreidebündel der elf Brüder sich seinem Getreidebündel bücken. Danach hatte er geträumt, dass sich die Sonne, der Mond und elf Sterne ihm bücken.
Nachdem Josef Knecht in Ägypten war, wegen einer Verleumdung im Gefängnis landete und dann plötzlich innerhalb weniger Stunden an einem Tag, welcher für ihn normal angefangen hatte, praktisch König wurde – so verstand Josef, dass seine zwei Träume eigentlich Prophezeiungen waren. Josef verstand weiter, dass der zweite Traum erst nach der Erfüllung des ersten Traums in Erfüllung gehen darf. Im ersten Traum bücken sich ihm aber keine Eltern, bloß die Getreidebündel seiner Brüder. Hätte Josef seinem Vater mitgeteilt, dass er lebt, wäre Jakov sofort nach Ägypten gekommen. Die Weisung GOTTES war also, still abzuwarten, bis sich ihm elf Brüder bücken.
Nach acht Jahren bücken sich ihm endlich seine Brüder. Aber zu Josefs Entsetzen sind es bloß zehn Brüder, Benjamin war nicht dabei! Josef brannte darauf, endlich seinen Vater zu treffen und verlangt selbstverständlich das Kommen von Benjamin!
Beim ersten Traum bücken sich die elf Getreidebündel dem Getreidebündel von Josef. Denn als sich ihm die elf Brüder bückten, wussten sie nicht, dass der Vizekönig vor ihnen Josef war. Der Grund des Bückens war der Bedarf an Nahrung= Getreidebündel. Auch hatten die Brüder in den Augen der Ägypter keine besondere Stellung, sie waren dann normale Nahrungssuchende. Bei der Verwirklichung des zweiten Traum, da kamen sie als Adlige, als Angehörige des Vizekönigs. Dementsprechend sind sie im Traum als Sonne, Mond und Sterne dargestellt. Und da sie dann wussten, wem sie sich bücken, so sieht man im zweiten Traum auch Josef persönlich.
Der jüdisch-amerikanische Verleger ArtScroll hat ein Buch herausgegeben mit dem Titel 'The other side of the story' voller Begebenheiten, bei denen Menschen überzeugt waren, dass sie den Tatbestand richtig verstehen. Schließlich erfahren sie eine Kleinigkeit, welche die ganze Geschichte auf den Kopf stellt.
Ich glaube, auch dies ist eine der Moralen, welche wir diese Woche zu Herzen nehmen sollten: zu oft fehlt uns ein kleinstes, aber so wichtiges Detail! Wir sollten nur richten, nachdem wir sichergestellt haben, dass wir tatsächlich das ganze Bild vor Augen haben.