B’ha’alotcha
Nostalgie und Bescheidenheit
Der Wochenabschnitt B’ha’alotcha:
Unser Wochenabschnitt B’ha’alotcha beschäftigt sich mit falscher Nostalgie und aufrichtiger Bescheidenheit.
- Hatte Moscheh Rabbenu Lebenslauf- oder Nachruf-Eigenschaften?
- Warum wird Einsamkeit als „lo tow“ⓘלֹא טוֹב
nicht gut beschrieben?
Die Gefahr der Nostalgie
Was ist Nostalgie?
Im Film „Midnight in Paris“ schwärmt ein Amerikaner unserer Zeit von der Künstlerszene von Paris der Zwanzigerjahre (also 1920er). Wenn er nur damals hätte leben können! Erst gegen Ende des Filmes realisiert er die zerstörerische Seite der Nostalgie - vieles, was uns früher in Echtzeit schwer und anstrengend war, bekommt im Rückblick etwas Schönes ab - die Ästhetik von Stadtbildern mit Wäscheleinen verdrängt die harte Arbeit, die man vor der Erfindung der Waschmaschine hatte, der Klang der Schreibmaschine den Aufwand, ein ganzes Blatt noch einmal neu schreiben zu müssen, weil man sich vertippt hat usw.
Es kommt aber noch etwas hinzu: Wir sind Gewohnheitstiere, und leben lieber in einer uns bekannten Sklaverei-Routine als im Ungewissen.
In diesem Zusammenhang ist die Sehnsucht von Am Israelⓘעַם יִשְׂרָאֵל
das Volk Israel nach den Fischen (und den Fleischtöpfen) Ägyptens zu sehen - die rosarote Brille zeigt ein Bild einer Realität, die es wohl so nie gegeben hat, aber die dem Volk Israel immerhin bekannt war - im Gegensatz zu Erez Israelⓘאֶרֶץ יִשְׂרָאֵל
das Land Israel, das sie nach Jahren und Jahrzehnten in der Wüste nicht einmal sehen, und im Gegensatz zum Leben in der Wüste.
Bescheidenheit ist eine Zier…
Ist Bescheidenheit eine gute Midahⓘמִיָּדָהּ
Eigenschaft? Nach dem deutschen Sprichwort offensichtlich nicht, denn man sagt: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“.
Nicht so im Judentum: Wie Rabbi Elyakim Krumbein schlit”a in seinem Schiur zu Anawahⓘעֲנָוָה
Demut, Bescheidenheit feststellt, ist Arroganz (also das Gegenteil von Anawah) eine Art, ein Mangel an Selbstwertgefühl zu überdecken. Anawah hingegen zeigt, dass man seinen Stellenwert kennt - so auch Moscheh Rabbenu: Zwar ist er der Anführer des jüdischen Volkes, das es aus der Sklaverei befreit hat, und die Zehn Gebote gegeben hat - aber gleichzeitig gilt: Moscheh Rabbenu wußte, daß er die Grundlage für diese Leistung von G–tt bekommen hatte. Und das ist die Basis der Anawah!
David Brooks* unterscheidet hier zwischen „Lebenslauf-Eigenschaften“ und „Nachruf-Eigenschaften“: Die Lebenslauf-Eigenschaften sind die Eigenschaften, die wir in unseren Lebenslauf stellen, z.B. Arbeitsamkeit, Studienabschlüsse, veröffentlichte Artikel - in einem Wort zusammengefasst: „Schwitzerei“**. Die Nachruf-Eigenschaften sind die Eigenschaften, die die Nachkommen in einer Beerdigungsrede erwähnen, z.B. Sinn für Familie, Hachnassat Orchimⓘהַכְנָסַת אוֹרְחִים
Gastfreundschaft, Chessedⓘחֶסֶד
Anmut - in einem Wort zusammenfasst: Anawah.
*David Brooks, Charakter: Die Kunst, Haltung zu zeigen (Kösel-Verlag, 2015)
**Vom jiddischen שוויצעראי - Angeberei, Protzerei, Großtuerei
Einsamkeit - lo tow!
Moscheh Rabbenu fühlt sich in seiner Führungsrolle sehr einsam - es ist ihm, als ob zu viel Gewicht auf seinen Schultern lastet. Daher stellt ihm HaSchem siebzig Männer aus den Ältesten (des Volkes) Israels zur Seite, gewissermaßen als „Verwaltungsrat“.
In diesem Zusammenhang erwähnt Rabbiner Jonathan Sacks sz”l, dass in der gesamten Torah nur zwei Mal der Ausdruck lo tow, „nicht gut“ vorkommt, und beide Male im Zusammenhang mit Einsamkeit:
- Zu Beginn der Menschheitsgeschichte, als G-tt sagt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.“ (Gen. 2:8)
- Als Jitro ⓘיִתְרוֹ sieht, wie Moscheh Rabbenu das Volk allein führt, und sagt: „Was du tust, ist nicht gut“ (Exod. 18:7).
Und in der Tat sind wir dafür geschaffen, ein gesellschaftliches Leben zu führen - in der Familie, im Minjanⓘמִנְיָן
Gebets Quorum
(10 Erwachsene) und in Klal Israelⓘכְּלָל יִשְׂרָאֵל
die Gemeinschaft Israel. Weil לֹא טוֹב הֱיוֹת הָאָדָם לְבַדּוֹ - Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. (Ein Satz, den Rabbiner oft bei Hochzeiten sagen)
Dazu eine kleine Anekdote: Bei einer Schiwahⓘשִׁבְעָה
Beileid Besuch in der Trauerwoche traf ich auf eine große Familie mit vielen Nachkommen. Der Sohn des Verstorbenen erzählte von dem ersten Pessach-Seder seiner Eltern - zwei Schoahüberlebende in Israel - kurz nach ihrer Hochzeit. Am Pessachtisch waren nur sie - außer ihnen war der Großteil ihrer Familien in der Schoah ermordet worden. Die Frau sagte zu ihrem Mann: “Ich wünsche mir, dass dies der letzte Seder sein wird, an dem wir zu zweit sind. Ich stelle mir vor, dass b'Esrat HaSchemⓘבְּעֶזְרַת הַשֵּׁם
mit G’ttes Hilfe der Tisch voller Kinder sein wird, und dass es sehr laut sein wird.”
Und so war es.