Gastbeiträge:
Bamidbar
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll

BaMidbar
die Wüste lebt!

Der Wochenabschnitt BaMidbar:

Das 4. Buch Moses heißt so wie der 1. Wochenabschnitt dieses Buches: בַּמִּדְבָּר - BaMidbar, also in der Wüste.

Chaim Noll

Chaim Noll

Unser Gastautor Chaim Noll, der seit vielen Jahrzehnten in der Negev-Wüste lebt, und sich in zahlreichen Büchern und Artikel sowohl mit der Torah als auch mit der Wüste beschäftigt, beleuchtet zu BaMidbar folgendes:

 

 

 

Von Ägypten in die Wüste - was die Zahlen sagen

”וַיִּֽהְי֛וּ כׇּל־פְּקוּדֵ֥י בְנֵֽי־יִשְׂרָאֵ֖ל לְבֵ֣ית אֲבֹתָ֑ם מִבֶּ֨ן עֶשְׂרִ֤ים שָׁנָה֙ וָמַ֔עְלָה כׇּל־יֹצֵ֥א צָבָ֖א בְּיִשְׂרָאֵֽל׃ וַיִּֽהְיוּ֙ כׇּל־הַפְּקֻדִ֔ים שֵׁשׁ־מֵא֥וֹת אֶ֖לֶף וּשְׁלֹ֣שֶׁת אֲלָפִ֑ים וַחֲמֵ֥שׁ מֵא֖וֹת וַחֲמִשִּֽׁים׃“

(במדבר א' מ"ה- מ"ו)

„Und es waren alle Gemusterten der Kinder Jisrael nach ihren Stammhäusern vom zwanzigsten Jahre und darüber, alle, die zum Heer in Jisrael auszogen, alle Gemusterten in Jisrael waren 603 550. “

(BaMidbar, Numeri, 4.Buch Moses, 1:45-46)

Es hat (...) wenig Sinn, sich den Zahlen-Spekulationen zu widmen, wie viele genau aus Ägypten aufbrachen. Die in unserem Wochenabschnitt angegebene Zahl von 603.550 waffenfähigen Männern älter als 20 Jahre (die Leviten, ein ganzer Stamm, wurden nicht gemustert, müssten also noch addiert werden) ist schwer zu vereinbaren mit der in 4. Mose 3,43 gemachten Angabe, es hätte nur 22.273 Erstgeborene im Alter von einem Monat und aufwärts gegeben. Dieser Widerspruch wurde von vielen Lesern im Lauf der Jahrhunderte bemerkt und als Zeichen für die Unbrauchbarkeit der mosaischen Bücher als historische Quelle interpretiert. Doch in biblischen Texten haben Zahlen eher symbolische Bedeutung als numerische (…) Die Zahl der Auswanderer muss jedenfalls hoch gewesen sein, sonst hätte die Ägypter die Gewährung des Auszugs nicht nachträglich gereut.

 

 

Erew Raw - über Fremde, die ein Teil von uns werden

Während einerseits viele Hebräer in Ägypten blieben – aus Gewohnheit, Schwäche oder Furcht vor der Wüste –, schlossen sich dafür, unter Ausnutzung der durch die Plagen ausgebrochenen Wirren, zahlreiche nicht-hebräische Sklaven den Auswanderern an.

Der hebräische Term für die mitgehenden Fremden ist Erew Rawעֵרֶב רַב, ein status constructus aus „Mischung“ und „Menge“. „Und es zog auch mit ihnen viel fremdes Volk“ (2. Mose 12,38), übersetzt die Luther-Bibel, während Buber/Rosenzweig in korrekter Wiedergabe des Verbs „a‘lah“עָלָה
gestiegen
und mit Hilfe einer Wortneuschöpfung übertragen: „Auch wanderte vieles Schwarmgemeng mit ihnen hinauf“. Das „Hinaufziehen“ betrifft einerseits den geographischen Vorgang, da die ägyptische „Ost-Wüste“ und der Sinai hoch ragende Gebirgszüge sind, um etliches höher gelegen als das Schwemmland des Nil. Symbolisch wird die Vokabel „a‘lah“ für das Einwandern ins Land Israel verwendet, bis heute. In beiden Übersetzungen werden Bezeichnungen für die Fremden verwendet, die den Eindruck suggerieren, die Hebräer hätten sie mit einem gewissen Misstrauen betrachtet. Falls dem so war, überwand man jedoch seine Vorurteile und sah nicht so genau hin (…) Die Erew Raw können ein beträchtlicher Teil, wenn nicht die Mehrheit der Ausziehenden gewesen sein, nach einem haggadischen Midrash (Yalkut Shimoni Remes 209) sogar bis zu zwei Drittel des Exodus-Volkes. Je mehr Menschen mitgingen, umso eher würde man sich unter den fremden Völkern behaupten, in deren Gebiet man mit dem Exodus zwangsläufig vordrang. Fürs Erste galt es, den großen, heterogenen Menschenhaufen zusammenzuhalten, ihm eine einende Identität zu geben und ihn zu bewahren.

 

 

Kein Weg zurück

Wohin? Der Rückweg nach Ägypten war abgeschnitten, seit der Pharao seinen Entschluss, die Hebräer und ihren Anhang ziehen zu lassen, nachträglich bereut und den Flüchtigen seine Kampfwagen hinterher geschickt hatte. Er nahm auf Grund eines irreführenden Manövers der Hebräer an, sie hätten „sich verirrt im Lande, die Wüste hat sie eingeschlossen“ (2. Mose 14,1 ff.). Sein Denkfehler lag im Nicht-Wissen der Vor-Geschichte des flüchtenden Volkes: der Wüstenerfahrung der „Patriarchen“, die den gesamten Raum, inklusive Wüsten, mehrmals durchmessen hatten. Pharaos Militärexpedition scheiterte im Schilfmeer (2. Mose 14, 23 ff.).

Das Desaster der ägyptischen Elitetruppen brachte den Flüchtlingen wie ein Lauffeuer sich ausbreitenden, mit Angst und Hass gemischten Respekt bei den jenseits der Wüste lebenden Völkern und zugleich die gnadenlose Feindschaft der Ägypter. Es empfahl sich für niemanden, zurückzukehren – die einzig denkbare Bewegung war das Vorwärts.

 

 

Ein Angebot, das man nicht abschlagen kann -
Haschems Vorschlag an das Volk Israel

Die Wüste ist ein Biotop, das determiniertes Handeln verlangt. Es muss ein Ziel geben, ein tägliches Vorhaben, einen mit Bedacht gewählten Weg. Der neu erwachte Glaube an Haschem musste aufrechterhalten werden – um des Überlebens willen. (...) Wie in einem Dialog, in dem jede Seite der anderen immer deutlichere Worte entlockt, provozierten die Flüchtlinge in der Wüste Haschem, bis er sich ihnen endlich in einer eindeutigen, ausführlichen, für Menschen fassbaren „Weisung“ zu erkennen gab. Darin lag zugleich sein Angebot an die Israeliten: bleibende Fürsorge und Teilnahme, unter der Bedingung ihrer Treue zu seinem Gesetz.

 

 

Ein Gesetz im gesetzlosen Raum -
über Matan Torah in der Wüste, und warum es einer Hochzeit gleicht

(Anmerkung von Moadim.com: Der Wochenabschnitt BaMidbar wird vor Schawuotשָׁבוּעוֹת
Wochenfest
gelesen, wo wir u.a. Matan Torahמַתָּן תּוֹרָה, also die Gabe der Torah am Berg Sinai, in der Wüste, feiern. Auch lesen wir die Megillat Ruthמְגִלַּת רוּת
Buch Rut
, die Geschichte einer moabitischen Frau, die durch ihre Heirat mit Boas die Begründerin des Davidischen Hauses wurde.)

Erstaunlich, dass ausgerechnet in der Wüste das Volk Israel 40 Jahre lang geschickt wird, und ausgerechnet dort Haschem ihm die Torah übergibt – obwohl sie der scheinbar unbeweglichste Ort der Erde ist und „die Gesetzlosigkeit der Wüste“ die Lebensform darstellt, die es zu überwinden gilt. Warum schickt Haschem die Israeliten, um den „schweren Weg in Richtung Humanität und Zivilisation“ zu gehen, ausgerechnet dorthin, wo seit Menschengedenken „Gesetzlosigkeit“ herrscht?

Für dieses Oxymoron würde die „Brautzeit“-Metapher der Propheten eine Lösung offerieren, die folgendermaßen geht:

Der Prophet Jeremia spricht von der „Brautzeit“ in der Wüste (Jer 2,2; vgl. Hos 2,16 und 13,5): Haschem handele durch die schriftliche Niederlegung des Bundes wie ein Bräutigam, der seiner Braut, über alle Liebesschwüre hinaus, einen Ehevertrag anbietet.

Es handelt sich um eine Probe, unter erschwerten Bedingungen. Die Versuchung ist eingeplant. Wie die früher übliche „Probezeit“ unter Verlobten. Jeder der Partner findet heraus, ob er sich wirklich binden will, beide Seiten können von dem Bund immer noch zurücktreten. Die Ehe wird erst später vollzogen – wie auch der Vertrag erst mit dem Einzug ins versprochene Land wirklich bindend wird. Bis dahin befindet sich Israel auf Probezeit in der Wüste.

 

 

Ein Volk, keine Rasse

”וַֽיַּעֲשׂ֖וּ בְּנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֑ל כְּ֠כֹ֠ל אֲשֶׁ֨ר צִוָּ֧ה יְ-ה-ֹוָ֛-ה אֶת־מֹשֶׁ֖ה כֵּ֥ן עָשֽׂוּ׃“

(במדבר א' נ"ד)

„Und die Kinder Jisrael taten (es) ganz, wie HaSchem dem Moscheh geboten, so taten sie.“

(BaMidbar, Numeri, 4.Buch Moses, 1:54)

Bei der Übergabe des Gesetzes kommt es zu einer historischen Erstmaligkeit, zur Überwindung des ethnischen Prinzips. Bis dahin verstand man unter „Völkern“ relativ homogene Gruppen gleicher Abkunft, verbunden durch interne Blutsverwandtschaft, nicht selten bis zur Inzucht.

An welche Götzen sie bisher geglaubt haben, welchen Völkern und Ländern sie entstammen, welche Gene sie in sich tragen, ist gleichgültig. Die Herkunftsmerkmale der Menschen verlieren in dem Augenblick ihre Bedeutung, als sie bereit sind, das neue, sie einende Grundgesetz anzuerkennen (…)

 
 
 

 
 
 
 

שַׁבַּת שָׁלוֹם וּמְבֹרָךְ
Schabbat Schalom Um’worach
Einen Friedvollen und gesegneten Sabbat

Chaim Noll, Meitar

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Der Text ist ein bearbeiteter Auszug aus Chaim Nolls Buch Die Wüste: Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen und wurde mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors hier veröffentlicht.

Chaim Noll

Die Wüste:
Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen

Zum Autor:

Chaim Noll wurde 1954 in Berlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete.

1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in Meitar, in der Wüste Negev, wo er auch an der Universität Be’er Sheva unterrichtet. Er hat 21 Bücher und zahlreiche Artikel geschrieben. Die Wüste und die Torah sind Themen, die Chaim oft beschäftigen.

Chaim Noll ist Schomer Torah u-Mizwot, und hat einige Male einen Schabbaton in Sde Boker (einem nicht-religiösen Kibbutz im Negev) organisiert, der an die Bedürfnisse von Schomrei Schabbat angepasst war (Minjan, Kaschrut, Schabbatmahlzeiten usw.).

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